Donnerstag, November 30, 2006

Keine Veränderung ohne Bewegung

Das erste was Herr Salzner bemerkte war der in der Kaffeetasse zitternde Kaffee. Genaugenommen sah er nur leichte Schwingungen der Oberfläche. Fasziniert hörte er auf in seinen Computerbildschirm zu starren und schaute dem physikalischen Effekt zu. Dieser wurde immer stärker. Aber erst als der Kaffee sich über den Rand der Tasse auf die Papierstapel auf seinem Schreibtisch ergoß realisierte er dass irgendetwas nicht stimmte.
Die Bücher im Regal kippten, das ganze Gebäude knirschte. Und jetzt spürte er auch das Zittern. Ein Erdbeben ? Es gab aber keine Stösse. Nur diese gleichmäßigen Erschütterungen.
Ein Blick durch das Bürofenster nach draußen: Alles bewegt sich ! Fällt die Welt zusammen ? Es dauerte einige Zeit bis er verstand: Die Welt steht still, die Büroimmobilie ist plötzlich mobil.
Panisch stürzte er in den Gang und rannte in die Putzfrau die gerade die Papierkörbe leerte. "Hilfe das Gebäude fällt zusammen !" rief er der kurz vor der Rente stehenden Frau Cipschka zu.
"Guten Morgen Herr Salzner, sie sind ja ein geborener Schauspieler !" erwiderte die in Katastrophenfilmen sehr bewanderte Frau Cipschka ungerührt während sie das Papier in den große blaue Müllsack schüttete.
"Aber schauen Sie aus dem Fenster ! Das Haus steht nicht mehr am alten Platz !"
"Heute wird doch dieser Arbeitsbereich in das neue Industriegebiet verlagert !" antwortete die Putzfrau kopfschüttelnd. "Wo haben Sie nur wieder ihren Kopf !".
Herr Salzner war es gewohnt dass er bei Frau Cipschka mütterlichen Instinkte weckte. Und Frau Cipschka hatte es sich zur Aufgabe gemacht den sehr sympathischen aber oft etwas lebensuntüchtigen Herrn Salzner etwas auf die Sprünge zu helfen.
Dieser rannte zurück ans Fenster, öffnete es und blickte nach unten. Auf unzähligen kleinen Beinen bewegte sich das Haus einem Tausendfüssler gleich voran. Eindeutig Richtung Industriegebiet.
Er ließ sich auf seinen Bürostuhl sinken. Vielleicht sollte er in Zukunft Emails aus der Zentrale doch Wort für Wort lesen. Und sich nicht mit der ersten Interpretation zufrieden geben.

Dienstag, November 28, 2006

Frösche dürfen weiter hoffen

"Erzähl uns nochmal das Märchen vom Froschkönig" betteln die beiden Enkel im Kindergartenalter, Constantin und Tina, ihren Opa an. Der hatte schon lange aufgegeben mit seinen Augensternen zu diskutieren, holt das abgegriffene Märchenbuch und fängt an vorzulesen. Die beiden hängen an seinen Lippen, dulden keine Abweichung vom vorgegebenen Text.
Horst Mützle hat das Rätsel bisher nicht lösen können warum man Kindern immer wieder die gleichen Geschichten vorlesen muss, die diese besser als der Vorleser kennen und jede kleine Auslassung oder Improvisation hart kritisieren.
Ist ja eigentlich genauso wie in der Kirche denkt er sich diesmal. Immer wortwörtlich die gleichen Bibeltexte. Aber immer mit einer neuen Interpretation. Das wäre doch auch etwas für Märchen.
Laute Protestrufe reissen ihn in die Realität zurück, und er liest mit geübter Stimme das Märchen weiter.
Am Ende des Märchens beginnt Horst Mützle seine neuen Gedanken über das Vorlesen umzusetzen. "In diesem Märchen hat die Prinzessin am Anfang eine behütete Kindheit so wie ihr. Es gibt keine Probleme, keine Gefahren, keine Pflichten. Und ihre schöne goldene Kugel zeigt wie perfekt alles ist."
"So naive Kinder gibt es heutzutage gar nicht mehr" unterbricht Constantin. Tina pflichtet ihm bei. "Und wir haben schon von Anfang an Pflichten, werden im Kindergarten mit der Realität konfrontiert. Wir müssen nicht erst eine symbolisch eine goldene Kugel verlieren."
Der Opa ist sprachlos. "Warum soll ich euch die Geschichte dann immer vorlesen ?"
"Sie ist einfach sooo schön. Ich will auch einen verwunschenen Prinzen treffen" flötet Tina. "So ein Frosch im Schloss, das ist eklig" steuert Constantin begeistert bei.
Horst Mützle seufzt erleichtert. Er wird das Vorlesen nie wieder in Frage stellen.

Montag, November 27, 2006

Mein Leben als Piratenbraut

Anja Brenner schiebt ihren Kinderwagen über den geteerten Waldweg. Sie ist schon sehr priviligiert denkt sie sich. Von ihrem Haus mit der gläsernen Front und dem unverbaubaren Blick über die Stadt ist sie in wenigen Minuten in dem Waldstück. Wenn sie nach dem Spaziergang mit ihrem Sohn noch Lust auf Shopping hat kann Sie in ihren Porsche Cayenne steigen und die Boutiquen unsicher machen - ihr Mann, ein erfolgreicher Wirtschaftsanwalt sorgt für einen immer gedeckte Kreditkarte.
Aber jetzt kommt sie wieder an die Stelle wo ihr Herz immer stockt, die sie aber immer wieder magisch anzieht.
Vor fünfzehn Jahren war sie mit ihren drei besten Freundinnen dort entlang geritten. Sie gingen in die gleiche teure Privatschule, waren Mitglied im exclusiven Reitclub am Rande des Waldstücks, und hatten damals schon Shopping als wichtigstes Hobby.
Und da kamen die drei wild aussehenden Jungs auf ihren Mountainbikes vorbei. Sie hielten an und riefen "schaut mal, die Ausbeutertöchter", und "schämt ihr euch nicht". Und Anja fiel der eine auf, mit den längeren Haaren, dem Che Guevara T-Shirt. Er bemerkte ihren Blick, sie schauten sich tief in die Augen.
Karin meinte zu ihren Freundinnen "zum Glück haben wir mit solchem Proletariat nicht zu tun" und ritt weiter. Anja spürte den Impuls vom Pferd zu steigen, sich mit dem Jungen zu unterhalten, genau so wie die adlige Tochter vom wilden Pirat fasziniert ist. Dann ritt sie aber doch ihren Freundinnen hinterher. Auf einem Sommerfest eines Bankiers lernte sie dann ihren jetzigen Mann kennen, brach ihr Studium ab, wurde Hausfrau.
Wäre sie glücklicher wenn sie damals abgestiegen wäre ? Wenn Sie einmal ihre abgeschottete Welt verlassen hätte ? Oder ist das ihre Jungmädchenromantik, der Junge ist Arzt geworden und wohnt in einem tollen Haus in einer ähnlichen gehobenen Wohngegend, ist genauso selten zuhause wie ihr Mann ?
Sie schiebt den Kinderwagen entschlossen an ihrem Stammspielplatz vorbei und winkt den dort ihren Nachwuchs beschäftigenden Nachbarn in ihren teuren Kostümen zu. Es ist ja nie zu spät. Jetzt fängt sie an einem Spielplatz an wo die Kinder keine Designerkleidung tragen.

Freitag, November 24, 2006

Für meine Muse

Der Redakteur ist verzweifelt. Für die morgige Zeitung muss er unbedingt noch eine Glosse schreiben. Und die Leser erwarten das von ihm. Freitag ist der Wahlsteiner-Tag. Leserbriete haben ihm bestätigt dass manche Fans am Freitagmorgen als allererstes seine Glosse lesen, während sie am Frühstückstisch sitzen.
Keine Idee, keine Idee. Die Fahrgäste in der S-Bahn haben geschwiegen, geträumt oder gelesen. Und hier ihm Cafe bekommt Herr Wahlsteiner auch keine Ideen dargeboten.
Vielleicht sollte er einen Cocktail bestellen ? Erstmal einen Espresso mit Bananenlikör.
Ist die geschlossene Eingangstüre schuld ? Steht seine Muse vor dem Cafe und kann nicht herein ? Friert sie vielleicht ?
Er stürzt den Espresso herunter, zahlt und verlässt fluchtartig das Lokal. Draussen ruft Herr Wahlsteiner "Hier bin ich, komm zu mir !". Er ist kurz davor auf die Knie zu fallen, hält dann aber inne. Sitzt seine Muse vielleicht auf dem Denkmal und amüsiert sich über ihn ? Will sie sehen wie weit er in seiner Verzweiflung geht ?
Er klettert den Sockel hoch und setzt sich zu Füßen des marmornen Pferdes, das stolz einen König trägt. Und da weiß Herr Wahlsteiner plötzlich: Er wird eine Glosse über fehlende Inspiration schreiben.
Er lächelt und flüstert "danke, meine Liebe."

Mittwoch, November 22, 2006

L'Art pour l'Art ?

"Ich heisse Chris Buntherr und bin Maler" stellt sich der junge, schlaksige Mann bei der Verwaltung des Kunstmuseums im Büro von Frau Minther vor. Und erläutert dass er sich mit einem Gemälde der Grösse 3 auf 5 Meter an der Ausstellung "Die Welt neu definiert - junge Künstler stellen sich vor" beteiligen will.
Die Mitarbeiterin des Museums zeigt sich nicht sehr beeindruckt und schiebt ihm wortlos einen Zettel mit den Bewerbungsunterlagen hin.
Chris Buntherr liest sich diese mit wachsendem Unmut durch und meint dann: "Ich bin Künstler, und bewerbe mich nicht um eine Banklehre. Wollen Sie alle kreativen Menschen beleidigen ?"
Frau Minther liebt ihre Arbeit in der Verwaltung des Kunstmuseums, aber manche der Künstler behandeln sie doch zu sehr als Inkarnation der spröden, uninspirierten und kalten Welt.
"Wir wollen unseren Besuchern etwas über die Künstler erzählen können. Aber das wichtigste sind doch Referenzen und Proben ihrer Arbeit - in Ihrem Fall also einfach ein paar Fotos ihrer bisherigen Werke."
"Ich verspreche Ihnen, ich werde ein Werk erschaffen das die Welt völlig erklärt, das ein neues Verständnis ermöglicht. Der Betrachter wird davor stehen - und plötzlich verstehen. Vorbei ist die Suche nach dem Sinn, das Streben nach einem Gottesbeweis. Und ihre Ausstellung wird ein Besuchermagnet ohnegleichen."
Der schon vorher sehr gerade und mit erhobenem Kopf stehende Maler scheint noch etwas gewachsen und deklamiert seine Sätze mit strahlendem Blick und ausschweifenden Handbewegungen.
Aber Frau Minther hatte schon so einiges erlebt. "Reichen Sie Bilder ihrer bisherigen Werke und eine zweiseitige Beschreibung ihres Vorhabens ein, sonst kann nicht darüber entschieden werden."
Jetzt wird Chris Buntherr etwas leiser. "Ich habe bisher noch nichts gemalt. Ich war noch nicht so weit, und wollte auch nicht mein Inneres an eine Fingerübung verschwenden. Wenn dann gleich richtig."
Frau Minther schaut den Maler etwas fassungslos an. "Sie haben noch nie gemalt, und wollen für diese Ausstellung ein riesiges Gemälde erstellen. Und sie denken wir würden es dann ausstellen ?" Sie kann sich ein freches Grinsen nicht ganz verkneifen. "Woher wissen Sie dass sie das überhaupt können ? Sie werden staunen wie schwer es am Anfang fällt."
"Aber ich spüre es" wirkt der Künstler jetzt schon sehr verunsichert. "Und woher wollen Sie wissen wie es Malern ergeht ?".
"Ich male selber ein wenig als Hobby. Und es hat gedauert bis mir meine Bilder gefielen. Aber ich traue mich nicht so richtig sie anderen zu zeigen." Dabei zeigt sie auf das hinter ihr an der Wand hängende Gemälde.
Mit offenem Mund starrt Chris Buntherr abwechselnd das Gemälde und Frau Minther an. "Das haben Sie gemalt ? Ich bewundere es schon seit ich hier bei Ihnen bin. Warum verschwenden Sie dann ihr Leben in einem Büro ? Sie sind zur Malerin geboren !"
Frau Minther lächelt. Und findet den Maler ohne Bilder gar nicht mehr so unsympathisch. "Jetzt schmeicheln Sie mir nicht so. Das nützt Ihnen nichts."
Aber Chris Buntherr ist wirklich begeistert. "Sie malen so wie ich es immer können wollte. Stellen Sie doch ein Bild in der Ausstellung aus ! Wenn ich Ihnen irgendwie dabei helfen kann..."
Wenig später standen zwei strahlende Personen am Kaffeeautomat: Eine gerade neu entdeckte Malerin mit dem erweckten Drang ihre Bilder nun auch zu zeigen, und ein neuer Kunstmanager mit der Vision die Welt mit den Bildern seiner Künstler zu erklären.

Montag, November 20, 2006

Verabredung mit dem Zufall im Café

"Schön dass Du heute Zeit hast und wir uns endlich treffen, Meike !"
Meike Patzlow schaut den Mann der an ihrem kleinen runden Tisch im altmodisch eingerichteten Café steht, entgeistert an. Sie hat ihn noch nie gesehen, und sie wollte jetzt in Ruhe nochmal ihren Vortragstext durchgehen.
"Entschuldigung, ich kenne Sie nicht. Und ich bin auch nicht mit Ihnen verabredet."
"Meike" seufzt der Mann, und setzt sich auf den noch freien Stuhl am Tisch. "Ich habe Dich nicht gleich gesehen, aber Deine unglaublichen Augen haben mich wie magisch durch das Lokal geleitet."
Meike Patzlow schaut den Mann näher an. Er sieht attraktiv aus, verwuschelte Frisur, sympathisches Lächeln.
"Sie wirken sehr überzeugend. Aber ich habe mich erst vor einer Viertelstunde entschlossen hierher zu kommen. Und ich muss noch etwas arbeiten." Damit legt Sie das Manuskript mit dem Titel "Zufall und Verabredung - philosophisches Traktat über Begegnungen im Café" auf den Tisch.
"Ludwig Witter" stellt sich nun endlich der ungebetene, aber gar nicht mehr so unwillkommene Gast vor. "Vor dem Arbeiten muss man sich stärken." Und damit winkt er die Kellnerin heran um sich die Kuchenauswahl erläutern zu lassen.
Während Meike Patzlow wenig später ein riesiges Stück Linzer Torte verspeist, versucht sie mit dem Astrophysiker Ludwig Witter eine Verbindung zwischen Milchkaffee, österreichischen Torten und Wurmlöchern zu ziehen. Und langsam beschleicht sie die Ahnung dass Sie vielleicht doch in einem metaphysischen Sinne verabredet waren. Und dass ihr Vortrag stark überarbeitet werden muss.

Inspiriert durch den Satz "Ja, vielleicht ist wirklich jede zufällige Begegnung in Wahrheit eine Verabredung !" in Selige Zeiten, brüchige Welt von Robert Menasse.

Freitag, November 17, 2006

Gedanken sind frei

Frau Lisa Schönmeier sitzt in der Straßenbahn. Die silbernen Ohrringe mit den schwarzen Perlen werden durch silberfarbene Kopfhörer stilvoll ergänzt. Konzentriert lauscht Sie auf die nur für sie hörbaren Klänge. Ab und zu fixiert sie einen Mitreisenden, stellt an ihrem flachen, einem i-Pod ähnlichen Gerät etwas ein und sitzt dann wieder in sich versunken da.
"Was hören Sie da" fragt ihr Gegenüber,Kevin Mutzner, die Gelegenheit nutzend mit der attraktiven Mitdreissigerin ins Gespräch zu kommen.
"Das ist ein Gerät zum Gedankenlesen. Ich höre mir gerne die Gedanken der Fahrgäste an".
"Sehr gute Idee" meint ihr Mitpassagier. "Zum Glück habe ich meine Abschirmbrille auf" und rückt die im Haar sitzende Sonnenbrille zurecht.
"Die nützt aber bei meinem Gerät offensichtlich nichts. Und deswegen müssen Sie es erst gar nicht weiter versuchen. Noch eine gute Reise."
Damit richtet Frau Schönmeier ihre Aufmerksamkeit auf einen anderen Fahrgast, und versinkt dann wieder in tiefer Konzentration.
Kevin Mutzner ist verärgert. Die Abfuhr war sehr kreativ, dass muß er zugeben. Aber sich von dieser Zicke so etwas anhören zu müssen. Dabei sieht sie gar nicht so gut aus.
Lisa Schönmeier hebt den Kopf und wirft ihrem Gegenüber mit verärgerter Miene einen eiskalten Blick zu. Der zuckt zusammen und läuft rot an, während seine Beobachterin zu lächeln beginnt.

Donnerstag, November 16, 2006

Elefantöser Gottesbeweis

Herr Steinbrenner legte eine Vollbremsung hin. Es war früh am Morgen, er war auf dem Weg zur Arbeit. Wie immer fuhr er - noch nicht ganz wach - durch ein Wohngebiet. Und da stand der Elefant auf der Fahrbahn.
Herr Steinbrenner kurbelte das Fenster herunter, spürte die kalte Luft, klatschte fest in die Hände um zu überprüfen ob er sich nicht in einem Traum befände. Er fand aber keine näheren Hinweise.
Stand dann dieser verärgerte Elefant auf der Straße weil er sich gestern gebenüber seinem Sohn über Benjamin Blümchen lustig gemacht hatte ? Elefanten sollen ja telepathisch begabt sein. Und dann hatte er einem Kollegen gesagt er benehme sich wie ein Elefant im Porzellanladen.
Bei diesen Gedanken begann Herr Steinbrenner etwas zu zittern. Der Elefant starrte ihn unentwegt an.
Und hatte er sich nicht auch über Ganesha den Elefantengott amüsiert ? Wie man sich solche Gottheiten ausdenken könne ?
"Vergib mir Ganesha ! Ich habe nicht an Dich geglaubt. Aber jetzt hast Du mir bewiesen dass Du existierst !" begann Herr Steinbrenner den Elefanten anzubeten.
Ein Lastwagen mit der Aufschrift "Circus Pastelli" kam aus der Gegenrichtung angefahren und hielt hinter dem Elefanten. Vier Männer stürzten heraus und führten den kleinen indischen Elefanten in den Wagen. Kurz bevor er die Rampe hochstieg schien er Herrn Steinbrenner zuzuzwinkern.
Herr Steinbrenner saß noch eine ganze Weile regungslos im Auto. Sein Leben hatte sich geändert.

Dienstag, November 14, 2006

Der Kunde ist König. Nein - Graf.

Es ist ein trüber, dunkler Herbstabend, kurz vor Geschäftsschluß. Der Angestellte der "Schuhreparatur. Schlüsselservice. Schnell und preiswert." räumt die Regale auf und schaut immer wieder sehnsüchtig auf die Uhr. Da tritt ein schwarzgekleideter Mann in den Laden. Er hat langes strähniges schwarzes Haar und ein fahles Gesicht - die Grippe denkt sich der Angestellte und fragt höflich nach dem Begehr.
"Können Sie mir diesen Schlüssel nachmachen ?" bittet der Kunde und legt einen großen massiven Schlüssel auf die Ladentheke.
"Das ist ja eine Antiquität ! In dieser Größe kann ich hier keine Duplikate herstellen."
"Aber wie soll ich dann einen Zweitschlüssel für mein Schloß bekommen ?"
Der Angestellte schaut den Kunden etwas fragend an, meint dann aber:
"Der Schlüssel ist zwar groß, aber primitiv. Wenn sie noch etwas warten kann ich sie mit nach Hause in meine Werkstatt nehmen, dann habe ich das schnell."
Und so fährt Herr Kulardi mit seinem Kunden, der sich als Graf Arthur von Drachenstein vorgestellt hatte in seinem VW 1600 nach Hause. Ihm fröstelt leicht, sein Fahrgast hat eine unheimliche Ausstrahlung, ist sonst aber sehr freundlich und erzählt spannende Geschichten über Fledermäuse.
In seiner Werkstatt, eine mit Motorrädern in verschiedenstem Zustand zugestellte Garage, schweißt und biegt er auf der Werkbank am hinteren Ende schnell einen geeigneten Schlüssel zusammen. Zwar nicht schön aussehend, aber funktional.
"Wissen Sie, wenn meine Freundin zu mir zieht braucht sie natürlich einen Schlüssel" erklärt der Graf und gibt Herrn Kulardi als Dank eine Goldmünze die wie der Schlüssel sehr alt aussieht.
Dann erklärt er noch es sei nicht nötig ihn irgendwo hinzufahren, verläßt die Garage und ist spurlos in der Nacht verschwunden.
Herr Kulardi betrachtet die Goldmünze. Wahrscheinlich hat er nur zu viel Phantasie. Und zu viele Filme gesehen. Aber vielleicht hat er auch einem Vampir ein glückliches Leben ermöglicht.

Montag, November 13, 2006

Das Hause, der Schneck, Lebbe

Es war so angenehm zuhause. Eine optimal angepaßte Umgebung. Sozusagen auf den Körper maßgeschneidert. Wunderbar um einfach träge zu existieren.
Das ganze da draußen vergessen. Nichts mitbekommen von den schrecklichen Dingen die in der Welt passieren. Nicht aufpassen müssen. Nicht auf Einflüsse reagieren. Nur sein.
Auf Dauer dann vielleicht doch nicht genug. Es soll ja Mönche geben die genau so leben. Aber das muss man können.
Es fehlt der Austausch mit anderen. Neue Impulse bekommen. Selber etwas bewegen. Etwas weitergeben. Also wirklich leben.
Entschlossen streckt die Schnecke ihren Kopf aus dem Haus. Schon viel besser.

Freitag, November 10, 2006

Spirituelles Handgepäck

Eine lange Schlange an der Sicherheitskontrolle des Flughafens. Geschäftsleute, Familien auf dem Weg in den Urlaub. Allgemeine Unruhe, nervöse Blicke auf die Uhr, Protestäußerungen.
In der Schlange ein asiatisch aussehender Mann mit weißer Mönchskutte. Stoisch in der Schlange stehend. In den Händen hält er einen verschlossenen Tonkrug.
Schließlich steht er an der Kontrolle.
"Flüssigkeiten können Sie nicht mit an Bord nehmen. Geben Sie den Behälter bitte ab."
"Dieses Behältnis transportiert nichts irdisches" erwidert der Mönch mit weicher Stimme und leichtem Akzent.
"Dann öffnen Sie bitte den Behälter" fordert der Mann vom Sicherheitspersonal.
"Das kann ich nicht, dann entweicht es."
Der Mann in Uniform wird nervös: "Gas ? Ich rufe Verstärkung."
Aber die beruhigende Stimme wirkt:" Nein, das Gefäß ist angefüllt mit spirituellem Inhalt."
"Tut mir leid, wenn ich es nicht kontrollieren kann dürfen sie es nicht mitnehmen."
Die anderen Mitwartenden beginnen schon laut zu protestieren, "was macht der Spinner da", "darf so einer überhaupt alleine reisen" sind ein paar der Bemerkungen.
Bei dem völlig gefaßt und ruhig wirkendem Mönch ist eine leichte Verzweiflung zu spüren. Er klammert sich fest an den Tonkrug und schaut um sich, auf Rettung wartend. Die kommt von hinten.
"Sie wollen also einen Geist transportieren, dürfen aber kein Gefäß mit ins Flugzeug nehmen ?" erschallt eine laute Stimme mit australischem Akzent.
Der Mönch schaut sich um. Ein kräftiger Mann, gekleidet wie für das Outback, mit riesigem Hut. "Das ist kein Geist..."
"Sie wollen nach Bangkok ? Da fliege ich auch hin. Ich könnte ihr Phantom unter dem Hut mitnehmen."
Der Mönch denkt kurz nach und ist begeistert. So kann nichts entweichen !
Der Australier kniet sich nieder, der Mönche öffnet das Gefäß und füllt den nicht wahrnehmbaren Inhalt unter den Hut. Dabei versucht er den Australier zu beruhigen: "Das ist völlig harmlos. Gute und glückliche Ideen, Erfahrung..."
"Mir macht das nichts. Bei uns gibt es so manches seltsames da draußen."
Der Mönch strahlt. Fehlt es dem spontanen Helfer an Würde und Respekt vor dem Spirituellen, so hat er doch ein gutes Herz, einen wachen Geist und ist offen für das Immaterielle. Im Gegensatz zu den anderen Menschen in der Schlange.
Wenig später sieht man ein erstaunliches Paar tief in ein Gespräch versunken beim Gate an der Bar sitzen - vor sich einen Tee und ein Bier.

Donnerstag, November 09, 2006

Die Macht der Musik

Das waren die bitteren Momente in seinem Beruf. Wenn er an den Rand des Saales gedrängt an seinem Synthesizer stand und Schlager aus den sechziger Jahren sang, die Gäste sich aber sehr gut unterhalten, essen oder sich langweilen - genau so als wäre er gar nicht anwesend.
Natürlich trauert er der alten Zeit hinterher. Als er mit seiner Band auf Dorffesten oder in Festsälen auftrat. Dort bewegte er die Menschen, brachte Einzelwesen zueinander - er war für diese Momente wie ein Gott, der das Schicksal der Tänzer anstieß. Und dann von der Bühne das ganze Leben in einen Saal gedrängt beobachten konnte: Annäherung, Verführung, Liebe, Entfremdung, Gleichgültigkeit...
Nachdem nun überall DJs Einzug gehalten haben wurden solche Bands nicht mehr gebraucht. Höchstens noch Alleinunterhalter für Kreise, die bei einem DJ vielleicht doch die Nase rümpfen würden.
Gerade hat er ein schönes Lied aus den zwanziger Jahren intoniert, und wieder hat sich nichts getan. Er rückte das Schild mit seinem dämlichen Künstlernamen Joe Roseman zurecht. Den hatte er sich vor 30 Jahren gewählt weil er dachte dann könnte etwas aus Jochen Rossmann werden.
Aus der großen Karriere wurde natürlich nichts, aber als Musiker war er dennoch glücklich. Außer bei Auftritten wie diesem. An denen auch die Gäste nicht ganz freiwillig da waren. Ein Empfang, ein Firmenfest, ein Veranstaltung bei der man gesehen werden muss.
Wenn aber keiner zuhört, dann kann er doch auch mal etwas anderes machen. Auch wenn er sich in seiner langer Karriere bisher immer zumindest grob an die Vorgaben des Veranstalters gehalten hat. Aber warum eigentlich ? Und genauso unauffällig wie bisher beginnt er Going Underground von the Jam zu spielen. Und da nimmt er Veränderungen war. Ein paar Köpfe drehen sich kurz zu ihm hin. Dort beginnt ein hochhackiger Fuß unter der Tischdecke zu wackeln. Am Nebentisch schlägt eine Kuchengabel im Takt auf den übriggebliebenen Sahneklecks. Zwei Blicke treffen sich.
Das ist doch kein verlorener Tag denkt sich Jochen Rossmann und beginnt als nächstes London Calling zu spielen, da er schon den Veranstalter mit irritiertem Gesicht auf sich zukommen sieht.

Inspiriert durch den Film "Quand j'étais chanteur" mit Gérard Depardieu und Cécile de France. Hoffentlich bald auch in deutschen Kinos.

Mittwoch, November 08, 2006

Herbstfarben

Herbst. Zeit der bunt leuchtenden Laubbäume. Herr Wiedner steht am Ende der schmalen Straße in der Vorstadtsiedlung und blickt über die Gärten. Es ist eindeutig. Er hat die schönsten Bäume in seinem Garten stehen., auch wenn sie noch ziemlich klein sind.
Schon als Kind hat er begeistert die bunten Blätter gesammelt, war enttäuscht wie sie immer schnell Farbe und Glanz verloren. Hat dann langsam verstanden dass die Blätter an den Bäumen bewundert werden müssen. Die Faszination liess aber nie nach.
Als Student hat er dann den Herbst weltweit genossen, Indian Summer, oder den verschobenen Herbst auf der Südhalbkugel.
Nun als Rentner hat er sich der Aufgabe gewidmet die schönen Farben selbst zu erschaffen. Hat sich mit deren Züchtung beschäftigt. Mit Baumpflege. Und was so alles dazugehört. Und nun sieht es das Ergebnis.
Als er stolz seine Erfahrungen im Gärtnerverein präsentieren wollte wurde er nur ausgelacht: Die Färbung der Blätter sei wegen der Bodenbeschaffenheit, der Nährstoffversorgung und des Klimas so wie sie ist. Und nicht wegen Züchtung.
Seine Farben haben aber alle verblüfft. Dann sind die Spezialisten bis aus der Universität gekommen und haben ganz genau studiert wie er düngt, gießt, fönt, bestrahlt, berieselt und anbläst. Haben sogar einen langen Artikel über seine Methode geschrieben.
Sie haben nichts kapiert, denkt er sich. Er will nur dass es seine Bäume gut haben. Die Farben aber züchtet er.
Zufrieden schlendert er die Straße entlang, magisch angezogen von den weithin leuchtenden Blättern.

Dienstag, November 07, 2006

Global und individuell

Eine Bäckerei an der Strassenecke. Eine ältere Frau bestellt: "Und wie immer ein Stück der hausgemachten Mohntorte, Frau Eberdinger."
Der neben ihr stehende junge Mann im Schlabberlook der frühen neunziger Jahre lacht höhnisch und meint: "Sie meinen die aufgebackene Torte aus der Produktion eines weißrussischen Gebäckfabrikanten !".
"Hier ist alles selbstgemacht. Wir sind eine echte Bäckerei im Familienbesitz. Ohne Filialen." widerspricht die Verkäuferin Frau Eberdinger stolz.
"Das ist ein tolles Werbekonzept. Aber sie benutzen sicher die gleichen Teigrohlinge wie der Schnellbäcker nebenan."
Bevor die indignierte Verkäuferin antworten kann erwidert die Kundin: "Junger Mann, sie haben keine Ahnung. Ich habe diese Torte schon bei Frau Hirmle senior gekauft als es Weißrussland noch gar nicht gab. Und auch noch keinen schrecklichen Plastikbäcker. Jetzt stellen sie sich erstmal vor."
Der junge Mann hat seinen festen Ansichten. Die er zum Teil auch als Buttons auf seinem abgenutzten Parka trägt. Seine Selbstsicherheit hat aber etwas gelitten. "Ich bin Herr Boost, Frau..."
"Frau Brettschneider, angenehm." antwortet die alte Dame mit einem angedeuteten Knicks.
Herr Boost sammelt sich. "Die Bäckerei wäre gar nicht konkurrenzfähig wenn sie die Kuchen noch selber herstellen würde."
Da mischt sich wieder Frau Eberdinger, geborene Hirmle ein. "Jetzt werde ich ihnen ein Geheimnis verraten dass selbst Frau Brettschneider noch nicht kennt: Ich backe extra einen einzelnen Kuchen mit besonders wenig Mohn, da Frau Brettschneider ihren Mohnkuchen so lieber mag. Und den hebe ich ihr auf, schauen sie hier."
Der junge Mann ist beeindruckt, auch wenn er sich mit Mohnkuchen nicht so recht auskennt. Seine kurze Verunsicherung ausnützend gibt Frau Eberdinger ihm auch noch ein pain au chocolat zum Probieren. Widerwillig muß er sich eingestehen dass das wirklich viel besser schmeckt als die labbrigen geschmacklosen Varianten beim Schnellbäcker.
Frau Brettschneider muß sich sehr zusammenreißen wie schon lange nicht mehr und prustet erst an der nächsten Kreuzung laut los. Einen Kuchen extra für sie backen ! Die Jugend läßt sich schnell einen Bären aufbinden. Wo doch jeder weiß dass sie immer einen Kuchen mit extra viel Mohn nehmen würde.
Als Herr Boost mit zwei großen Tüten an ihr vorübereilt schmettert sie ihm außer Puste aber über das ganze Gesicht strahlend ein "guten Appetit" nach. Und Herr Boost ahnt schon dass er auch morgen wieder in der Bäckerei stehen und sich von Frau Eberdinger Gebäck empfehlen lassen wird.

Freitag, November 03, 2006

Die Arie des Alexandro

Der Vogelfänger geht durch die Innenstadt. Nein so nüchtern kann das nicht beschrieben werden. Er macht einen Sprung hier, ein paar Trippelschritte hier, tänzelt um die verblüfften Einkäufer herum.
Er bewegt sich zu einer Melodie die nur er hört. Alexandro hat aber kein Federkleid an, und denkt auch nicht an ein Lied von Mozart. Ihm geht ein Stück von den Hidden Cameras durch den Kopf, außerdem trägt er ein extravagantes Ensemble von Gautier.
In einer Großstadt Vögel fangen zu wollen ist kein motivierendes Unterfangen. Ohne jegliche Mühe könnte er ganze Taubenschwärme einsperren, aber an diesen hässlichen Tieren hat er kein Interesse. Auch Spatzen sind nicht besonders interessant. Ab und zu ist eine Blaumeise oder eine Elster zu entdecken, alles aber keine Herausforderung.
Er ist aus einem besonderen Grund in der Stadt: Weil er über ein neues Leben nachdenkt. Und weil er im Wald auf der Suche nach Mädchen nicht sehr erfolgreich ist. Ab und zu rauscht eine Mountainbikerin vorbei - Alexandro kann sich manchmal nur durch einen Sprung retten. Keuchende Joggerinnen sind auch noch anzutreffen, aber Prinzessinnen hat er noch nie gesehen.
"Es ist halt nicht mehr so einfach wie bei meinem berühmten Vorfahren" denkt sich Alexandro, "Leben in einer abgeschlossenen Gegend, Stammkunden die das Auskommen sichern. Die neuen Abenteuer warten in der Stadt. Aber mit Optimismus kann man immer noch alles erreichen."
Alexandro hat das Café erreicht in dem er über den Winter als Bedienung arbeiten wird. Er mustert die Gäste. Auch wenn er den traditionellen Beruf erstmal nicht weiter ausübt, sein Vorfahre wäre mit dieser Wahl sicher einverstanden.