Mittwoch, Dezember 06, 2006

Schwarzer Nachtvogel im Advent

Ein typischer Dezemberabend. Ein Gefühl wie in tiefster Nacht, auch wenn es erst am frühen Abend ist. Die Fußgängerzone ist voller Einkäufer, die Fassaden der Kaufhäuser wetteifern im Blinken und Strahlen, in den Schaufenstern buhlen wunderschöne und oft unbenötigte Produkte um die Gunst der Einkäufer. Auf dem großen Platz wird von den Holzbuden erste Weihnachtsstimmung angeregt, viele Menschen schieben sich durch die Gänge der Weihnachtsmarkts oder stehen an den Glühweinständen, einen dampfenden Becher in der Hand.
Auf einem kahlen Baum am Rande der Platzes, von dem hellen Weihnachtsschein nicht erreicht, sitzt ein Mann mit schwarzem Mantel in Hockstellung. Mit den zwei nach hinten fallenden langen Mantelschößen und dem nach oben gereckten Kopf wirkt er aus der Entfernung wie ein riesiger schwarzer Vogel.
Eine Gruppe von Mitarbeitern des Vermessungsamtes, die sich nach der Arbeit am Glühweinstand versammelt haben, entdecken die Gestalt im Baum und beschliessen dies näher zu untersuchen - weniger aus Sorge oder Mitgefühl sondern eher aus Neugier und weil der Gesprächsstoff ausgegangen ist.
Die Gruppe setzt sich in Bewegung, und fünf durch den Glühwein schon leicht erröteten Gesichter blicken wenig später nach oben in die Baumkrone.
"Hallo Sie ! Was machen Sie da im Baum ?" ruft Henning Vatenstat dem Mann zu.
"Ich betrachte den Mond !" erwidert die Gestalt mit einer wohlklingenden Stimme ohne den Kopf der Gruppe zuzuwenden.
Unwillkürlich folgt die Gruppe der Blickrichtung des Mannes und sehen den Mond hell strahlend und tief über der Stadt stehen - bisher hatten sie ihn noch nicht im Blickfeld gehabt.
"Aber warum sitzen Sie im Baum ?" fragt der Wortführer nach.
Die Gestalt wendet nun erstmals den Blick der Gruppe zu und erwidert "Warum sitzen Vögel auf Bäumen ?"
Das Timbre der Stimme läßt Bettina Fleissner, der einzigen Frau in der Gruppe, einen wohligen Schauer den Rücken hinunterlaufen, und sie antwortet auf die rhetorische Frage "damit sie einen guten Überblick haben, nicht überrascht werden können. Und wahrscheinlich kann man so auch besser starten."
Ihre vier Kollegen schauen sie belustigt an, und Anton Illrich, der unfreiwillig in der Abteilung in die Position des Spaßvogels geraten ist, wird mit einem "da hat die Bettina mal wieder gut in der Schule aufgepasst" seiner Rolle gerecht.
Die Gestalt hat ihren Blick wieder dem Mond zugewandt. Bettina Fleissner versucht mit einem "dann sind sie ein Nachtvogel, und fliegen sie im Mondlicht ?" das Gespräch weiterzuführen. Damit bewirkt sie aber keine Reaktion beim Angesprochenen, Anton Illrich schlägt ihr aber jovial auf die Schulter und trompetet begeistert "die Bettina hat einen Witz gemacht ! Unsere Musterschülerin sollte vielleicht öfters Glühwein trinken !". Was Bettina Fleissner mit einem gezwungenen Lächeln quittiert, hatte sie ihre Frage doch ganz ernst gemeint.
Da die Gestalt keine Regung mehr zeigt strebt die Gruppe wieder dem lauten, geschäftigen und leuchtenden Treiben in der Mitte des Platzes zu. Als sich die Kollegen wieder am Glühweinstand sammeln und Richtung Baum schauen ist die Gestalt verschwunden. Nur Bettina Fleissner hält daraufhin im schwarzen Nachthimmel Ausschau nach einem großen Nachtvogel.

3 Kommentare:

mq hat gesagt…

Der Illrich hat ihr LSD in den Glühwein getan. Ein echter Spaßvogel.

kein einzelfall hat gesagt…

Plump, aber von Herzen kommende: Das hier ist die begeisterte Zuschrift einer bekennenden Glühwein-Hasserin.

Lundi hat gesagt…

@markus: Auf solche trifft man immer wieder.
@madame: Glühwein finde ich gar nicht so schlecht, wenn man ihn mit den richtigen Leuten zusammen trinkt...