Samstag, Juli 22, 2006

Eine Mohnblume macht schon einen Sommer

Die Hauptverkehrsstrasse durchschneidet die Stadt wie ein reissender Fluss, der nur an wenigen Stellen überquert werden kann. Inmitten dieser gefährlichen stählernen Strömung lagen verkehrsumtoste Inseln, auf denen sich die Natur zu behaupten versucht.
Frau Rauhnagel überquerte die sechs Fahrspuren auf ihrem Weg zur Arbeit. Obwohl sie nur leicht bekleidet war - ihre männlichen Kollegen in langen Hosen und durch Krawatten eingeschnürte Hälsen beneideten sie täglich - war ihr schon viel zu heiß. Als sie die erste Hälfte des asphaltierten Stromes überquert hat fiel ihr Blick auf den schmalen Grünstreifen - durch die Sonne ausgedorrt und von Staub überzogen war er eher graugelb als grün. Und in der Mitte sieht sie eine Blume. Zwar etwas verschrumpelt, auch staubig, aber eindeutig eine rote Blume.
Dieses Bild verläßt sie den ganzen Tag nicht. Und daher rüstete sie sich vor dem Heimgehen mit passendem Büromaterial aus und ohne genau zu wissen warum sie es tut gräbt sie auf dem Heimweg mit Schere und Lineal die Pflanze aus, die sie von Nahem als Mohnblume erkennt. Und zuhause pflanzt sie diese Blume in einen schönen Topf, nachdem sie die Pflanze vorsichtig abgeduscht und gepflegt hat.
In der Nacht träumt sie einen sehr realistischen Traum: Sie wacht auf und geht ins Wohnzimmer um etwas zu trinken. Dort steht ein Mann in schwarz-weiss, den sie von ihrem Ausstellungsbesucht sofort als Claude Monet erkennt, an einer Staffelei und malt. Er schaut die Mohnblume in ihrem Topf konzentriert an und malt sie dann ab, und das tut er immer wieder und fügt so eine Mohnblume an die andere, und hat schon einen ansehnlichen Teil des Mohnfeldes gemalt. Und die in blau-weiß an Wolken am Himmel erinnernde Glasur des Topfes findet sich als Himmel auf dem Gemälde wieder.
Als Monet Frau Rauhnagel erblickt drückt er ihr einen Sonnenschirm in die Hand und bitten sie für ihn Modell zu stehen - was sie natürlich gerne tat.
Als sie am nächsten Morgen aufwacht geht sie als erstes ins Wohnzimmer, begrüßt die Mohnblume und sucht in ihrem Monet-Bildband das Bild Mohnfeld bei Argenteuil. Sie setzt sich ans Fenster und studiert im Morgenlicht die Figur der Frau mit dem Sonnenschirm.

3 Kommentare:

kein einzelfall hat gesagt…

Verehrter Maitre Lundi, gewiss würde es wohl die Poesie dieser Episode zerstören, früge man, wie Frau Rauhnagels Vergleich ausging? Betrachten Sie die Frage also als nicht gestellt und diesen Nonsens-Kommentar unter mildernden Umständen (plädiere auf Hitze).

mq hat gesagt…

Menschen, die eine Klatschmohnpflanze aus ihrem botanischen Elend erretten, sollten mit einem eigens dafür einzurichtendem Orden der UNO verziert werden. Inspirierende Geschichte!

Lundi hat gesagt…

@Madame Einzelfall: Ihr Kommentar ist wie immer voller Weisheit. Und allein für den schönen Konjunktiv früge hat sich mein Beitrag gelohnt.
@markus quint: Gute Idee mit dem Orden ! Monet kann nicht irren, das ist eine ganz besondere Pflanze.