Freitag, Mai 26, 2006

Mohnstriezel

Die Auswahl war gross. Zu gross. Florentiner. Apfeltaschen. Rosinenschnecken. Nußecken. Puddingbrezeln. Erich Lotzing ließ seinen Blick die Glastheke entlanggleiten - erst die oberste Etage, dann die darunter. Und da war er: Schlesischer Mohnstrudel !
Das Herz begann zu rasen. Er bestellte ein Stück - "bitte nicht einpacken" - und begann auf das köstlichst duftende Gebäck mit seinem inzwischen fast ausgestorbenen schlesischen Dialekt einzureden.
"Was machen Sie da" fragte die Verkäuferin den sehr rüstig wirkeden elegant gekleideten älteren Herren interessiert. "Ich beschwöre den guten Geist der Mohnstriezel, um mit ihm nochmal die gute alte Zeit aufleben zu lassen, aber es gelingt einfach nicht." Und auf den fragenden Blick der Verkäuferin hin ergänzte Herr Lotzing "vor der Flucht - da war ich sieben Jahre alt - habe ich mir immer ein Stück Mohnstriezel aus der Bäckerei geholt und mit dem Geist alles wichtige besprochen".
Die Verkäuferin war in diesem lebenswerten Stadtteil exzentrische Kunden gewöhnt und versuchte zu helfen: "Das ist Mohnstrudel nach schlesischem Rezept, aber in Baden-Württemberg von einem urschwäbischen Bäcker hergestellt. Fahren Sie doch mal nach Polen und beschwören einen echten Mohnstriezel !". "Nach Polen ?" Die Gesichtszüge von Herrn Lotzing verhärteten.
"Ja ! Das ist jetzt EU, also ganz einfach zu machen. Die Polen sind nett und hilfsbereit, es gibt auch Städtereisen zu buchen".
"Und Sie meinen da gelingt es mir den Geist der Mohnstriezel wieder zu finden ?"
"Ja" erwiderte die Verkäuferin und fügte in Gedanken hinzu: "Und Ihre Kindheit wird für Sie dort auch ohne den Geist wieder lebendig werden."

2 Kommentare:

kein einzelfall hat gesagt…

Glückliche Bäckerei, die solche Kunden und solche Verkäuferinnen hat. Und hausgemachtes Backwerk dazu!

Lundi hat gesagt…

Und glückliche Kunden, die eine solche Bäckerei haben !Bäckereiketten mit Fabrikware muss man boykottieren. Mit ihrem erlesenen Geschmack tun sie das sicherlich sowieso, Madame Einzelfall !