Montag, Oktober 23, 2006

Das Leben am Fluss

Eine sehr belebte Innenstadt. Die Einkäufer mit den großen, vollen Tüten treffen auf die bummelnden Spaziergänger. Überall Restautants und Kneipen vor denen Gäste sitzen, den lauen Herbsttag genießen und die Passanten begutachten. Man spürt die glückliche, städtische Welt von wohlhabenden Bürgern.
Plötzlich ist eine leichte atmospärische Störung zu spüren. Ein verwahrlost aussehender Mann, in Fetzen gekleidet, die bei näherer Betrachtung als Felle zu erkennen sind, mit einem langen, fülligem Bart kommt durch die belebte Strasse gelaufen und ruft: "Wo sind meine Schafe ? Haben Sie meine Schafe gesehen ?".
Die Passanten wenden sich ab, vermeiden den Blickkontakt. Als der Mann sich dem Außenbereich eines etwas nobleren italienischen Lokals nähert springen sofort zwei Kellner herbei, packen ihn an den Armen und ziehen ihn etwas unsanft am Lokal vorbei.
Erschöpft und enttäuscht lehnt sich der Mann an eine Straßenlaterne. Plötzlich wird er von einem Mann mit weißem Trainingsanzug angesprochen. "Können Sie mir helfen ? Ich bin anerkannter Spezialist für Obertongesang und Muschelmeditation, halte in einer Stunde meinen nächsten Kurs. Ich suche immer noch die richtige Verbindung zur Natur. Und Sie sehen mir so aus. Ich bin der Ben".
Der Mann schaut erst etwas sprachlos und erwidert dann: "Angenehm. Volker. Ich suche meine Schafe."
Jetzt ist es an Ben sprachlos zu sein: "Ich habe sofort gespürt dass Sie ein Mann der Natur sind. Aber gleich Schäfer ? Und warum suchen Sie Ihre Schafe in der Fußgängerzone ?"
Volker schmunzelt etwas. "Das ist nicht so wörtlich zu nehmen ! Ich habe keine Tiere. Aber ich suche die über die ich wachen sollte. Die auf die ich die vielen Jahre nicht gut genug aufgepaßt habe. Die ich enttäuscht habe." Dabei trübt sich seine Miene zunehmend ein, das Lächeln verschwindet.
Jetzt ist es an Ben seine professionellen Talente zu versuchen. "Es hilft nicht in die Vergangenheit zu schauen. Das hier und jetzt zählt. Erst völlig Loslassen, und dann neu Sammeln. Zu genießen wagen"
"So erzählen Sie das sicher in Ihren Kursen den konsumgeschädigten, orientierungslosen Städtern. Das müssen Sie bei mir nicht ausprobieren."
Aber Ben ist nicht so leicht aus der Fassung zu bringen. Schließlich ist er von sich überzeugt.
"Kennen Sie diese Stadt ?" fragt er. Und als Volker den Kopf schüttelt meint Ben "Dann habe ich etwas für Sie, kommen Sie mit".
Und während Ben ein paar Stunden später verzweifelt versucht interessierten aber nicht besonders konzentrierten Kursteilnehmern einen Oberton zu entlocken sitzt Volker auf einer Bank auf der Rheinpromenade, blickt über den breiten, stark befahrenen Fluß auf die dort grasende Schafsherde und fühlt dass an dem hier und jetzt wohl etwas dran sein muss. Und dass Ben wirklich etwas vom Leben versteht. Und er freut sich schon ihn später wieder hier am Ufer zu treffen.

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