Montag, Oktober 09, 2006

Ich wäre so gerne kein Individualist

Eva Mandtke sitzt etwas unruhig auf der Sitzbank der S-Bahn und kramt in ihrer braunen Lederhandtasche. Sie holt den kleinen Schminkspiegel hervor, klappt ihn auf und kontrolliert schnell ihr Styling. Lidschatten, Wimperntusche, Lippenstift - alles sitzt perfekt. Die Nase und die Wangen glänzen nicht. Auch das kleine Piercing über der Oberlippe glänzt. Die Haare sitzen perfekt, wie zufällig in die ansprechende Form gefallen.
Die großen Ohrringe pendeln locker. Vielleicht die Kleidung ? Schnelle prüfende Blicke beruhigen sie: Die weiße Hose ist tadellos, das Top sitzt perfekt. Kein übertriebenes Outfit wie für eine Party Freitag Nacht, sondern eher dezent und ansprechend.
Warum schauen sie die anderen Passagiere nur so unverhohlen an ? Sie durchwühlt wieder die Handtasche und findet die kleine Pillendose, holt einen lebenden Wurm heraus und füttert ihn Ludwig, der auf ihrer Schulter sitzenden Echse.
Die Menschen sind schon seltsam denkt sich Eva Mandtke. Da bietet so ein Begleiter schon Sicherheit. Vor allem da er auch Feuer speien kann. Gerade kringeln sich ein paar Rauchwolken aus den Nüstern der Echse.
Dem Kind auf dem Sitz gegenüber fallen fast die Augen aus dem Kopf. Er stottert nur "Der Drache, der Drache...". Seiner neben ihm sitzenden Mutter klappt der Mund auf.
Jetzt endgültig entnervt schreit Eva Mandtke sie an: "Starren Sie mich nicht so an ! Bin ich grün im Gesicht ? Habe ich Lepra ? Warum können Sie mich nicht in Ruhe lassen !"
Die Mutter spring auf, nimmt ihr Kind an der Hand und geht den Gang entlang.
Eva Mandtke seufzt tief und krault Ludwig auf dem Kopf. Sie wird die Menschen nie begreifen. Sie gibt sich alle Mühe ein normales Mitglied der Gesellschaft zu sein. Aber es klappt einfach nicht.

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