Mittwoch, Oktober 18, 2006

Nicht suchen, gefunden werden

Die Schuhverkäuferin Frau Li stürmt auf die Kundin im Kaufhaus zu. "Kann ich Ihnen behilflich sein ? Suchen sie etwas bestimmtes ?".
Die Kundin, Frau Berger, eine Mitdreissigerin in schickem Bürooutfit, fühlt sich völlig überrumpelt. Sie hat sich inzwischen so daran gewöhnt in Kaufhäusern das Personal nur mühsam aufstöbern zu können, dass sie fast ins Stottern gerät.
"Ich schaue mich nur so um..."
"Gerne. Mehr Büroschuhe, Freizeit ?"
"Büro" stößt Frau Berger völlig überrumpelt hervor. Warum eigentlich nicht Freizeit ? Und warum ist sie nicht zu den Hosen gegangen ?
Ein prüfender Blick von Frau Li nach unten. "Größe 36 ?" Frau Berger nickt nur.
Die Verkäuferin eilt davon. Frau Berger stößt einen Seufzer aus. Eigentlich wollte sie nach der Arbeit nur mal entspannen, und das kann sie nun mal am besten beim ungestörten Shoppen - auch wenn sie dann meistens gar nichts kauft. In der Ferne sieht sie Frau Li langsam ein Schuhregal entlang gehen und dabei das Ohr an die Schuhe halten. Vorsichtig nähert sie sich um eine Regalreihe. Da sieht sie dass die Verkäuferin auch redet, über die Schuhe streicht. Fasziniert schaut sie zu, wendet sich dann aber doch ab und schlendert durch die Regale, kann sich aber wie immer nicht auf die Ware konzentrieren. Die Gänge zwischen den verlockend dargebotenen Kleidungsstücken sind ihre Kreuzgänge kommt ihr in den Sinn, ihr Klostergarten.
Am Ende der Regalreihe steht plötzlich wieder Frau Li vor ihr, und passt als asiatischer Mönch in ihren Tagtraum.
"Ich habe die perfekten Schuhe für Sie gefunden. Probieren Sie doch mal !"
Frau Berger purzelt in das Jetzt zurück und will erst spontan ablehnen. Aber die Schuhe sehen wirklich toll aus. Hat sie nicht solche Schuhe gesucht ? Nein. Aber hätte sie nicht gerne solche Schuhe gesucht wenn Sie gewusst hätte dass sie genau diese will ? Während sie versucht ihre Gedanken zu ordnen zieht sie die Schuhe an. Sie passen perfekt, sind angenehm. Jetzt nur nicht in den Spiegel schauen...
"Kommen Sie hier her, schauen Sie in den Spiegel. Die Schuhe passen wunderbar zu Ihnen !"
Frau Berger seufzt. Sie sieht es kommen. Die Schuhe passen wirklich in Farbton und Form, sehen anders aus als ihre üblichen Modelle, treffen aber ihren Typ viel besser.
Während Frau Li die neuen Schuhe in einen Karton verpackt frage Frau Berger bewundernd: "Haben Sie geahnt dass diese Schuhe so gut zu mir passen ?"
"Ich bin da nicht sehr begabt" flüstert Frau Li und zwinkert ihrer Kundin verschwörerisch zu. "Ich habe die Schuhe gefragt welches Paar gerne mit ihnen mitgehen will."
Frau Berger nickt und weiß nicht was sie antworten soll. Mit einem vielen Dank geht sie Richtung Kasse.
Am Absatz der Rolltreppe schaut sie sich nochmal um und sieht Frau Li bereits über Winterstiefel gebeugt. Im Abwärtsfahren hebt sie die Einkaufstüte hoch: "Jetz fahren wir erstmal zu mir nach Hause".

1 Kommentar:

samoafex hat gesagt…

Ma, schönes Ende!